30 Jahre AMICA - Eine Chronik
Foto: Amica
1993 – 1998: Anfänge in Bosnien
Im Zuge des Bosnienkrieges Anfang der 90er werden das erste Mal Berichte über sexualisierte Gewalt als Kriegswaffe publik. Sie erschüttern die Bevölkerung und lösen eine hohe Anteilnahme aus. Im soziokulturellen Zentrum Fabrik in Freiburg findet sich eine Bürger*inneninitiative zusammen, die nicht tatenlos zuschauen, sondern handeln möchte. Sie organisiert zahlreiche Hilfsgütertransporte nach Tuzla, wo eine große Zahl intern Vertriebener aus den Kriegsgebieten Schutz sucht. Den Helfenden wird schnell klar, dass es Angebote braucht, die vor allem Frauen in den Blick nehmen. Aus „Hilfe für Menschen im Krieg e.V.“ wächst AMICA e.V.
Foto: Transport von Lebensmitteln, Hygieneartikeln und Medikamenten von Freiburg nach Tuzla, 1993.
Dieses Projekt wurde im Krieg aus dem Nichts gestemmt und ich weiß, dass wir mit vereinten Kräften hier sehr viel leisten können.“ (Rundbrief 1994) |
In Tuzla eröffnet am 31. Oktober 1994 das erste Projekthaus, wo Frauen und Kinder psychosoziale Hilfe und medizinische Versorgung erhalten. In der psychosozialen Einzelfallberatung werden psychologische, medizinische, rechtliche und soziale Betreuung kombiniert – in dieser Art ein Pionierprojekt vor Ort.
„Im Beratungszentrum von AMICA habe ich gelernt, mit beiden Beinen fest auf dem Boden zu stehen“, so eine Frau im Rückblick auf das erste Schutzhaus in Tuzla, in dem sie nach der Flucht vor dem Krieg eine Anlaufstelle fand. |
Aus der anfänglichen Soforthilfe entsteht nach Ende des Kriegs eine dauerhafte Unterstützung für Überlebende. Das Projekt weitet sich auf sozio-ökonomische Förderung der Frauen aus, damit sie wieder ein eigenständiges und selbstbestimmtes Leben führen können. Was damals noch niemand weiß: dieses Ziel wird AMICA gemeinsam mit ihren Projektpartnerinnen die nächsten 30 Jahre verfolgen.
Die Erfahrungen aus Bosnien werden von nun an Grundlage dafür, auch in anderen Kriegs- und Krisenregionen für Frauen aktiv zu werden und Überlebende sexualisierter Kriegsgewalt zu unterstützen.
Foto: Nähkurs im Projekthaus in Tuzla, 1993-95.
Das Netzwerk der Transporte nach Tuzla, Bosnien.
Aufruf zu Sach- und Geldspenden in der Zeitung 1993. Der Start der Pflegetaschen. Mit diesen befüllt werden sich in den folgenden Jahren unzählige LKWs auf den Weg nach Bosnien machen.
Ankunft einer der über 65 Hilfsgütertransporte in den ersten Jahren nach Tuzla, Bosnien.
1999 – 2003: Südosteuropa – länderübergreifende Frauenrechtsarbeit in Bosnien, Kosovo und Nordmazedonien
Mit dem Ende des Bosnienkrieges kommt der Balkan nicht zur Ruhe. Als es 1999 zum Krieg im Kosovo kommt, beschließt AMICA die Aktivitäten auf Kosovo und Nordmazedonien auszuweiten. Zu Beginn stehen wieder Transporte von Lebensmitteln und Hygieneprodukten im Vordergrund – ähnlich wie ein paar Jahre zuvor noch in Bosnien. Im Kosovo entsteht dann ein Zentrum, sowohl auf albanischer als auch auf serbischer Seite, wo Frauen einen sicheren Ort finden und Beratung erhalten. Ein ähnliches Beratungszentrum wird in Nordmazedonien errichtet.
Foto: Zur Überbrückung von Engpässen nach dem Krieg werden im Winter 2000 Lebensmittel nach Bosnien transportiert.
Unser Frauenzentrum, das wir gerade bauen, soll auf jeden Fall offen sein für alle Frauen. Ob vom Dorf oder aus der Stadt, ob Roma, Kosovo-Albanerin oder Kosovo–Serbin, ob slawische Muslimin oder Ashkali, ob Witwe, Analphabetin, alleinerziehende Mutter, Professorin, ob mit Kopftuch oder Minirock. Dass sie eines Tages auch tatsächlich alle kommen, dafür stehen die Chancen gut. Ich wette nicht dagegen.“ (aus dem Rundbrief 2001/2) |
Auch in Bosnien wird die Arbeit im Beratungs- und Weiterbildungszentrum fortgeführt, denn die Folgen des Krieges sind bei den Überlebenden noch immer allgegenwärtig. Neben der psychosozialen Unterstützung bringen Versöhnungsworkshops Frauen aus unterschiedlichen ethnischen Gruppen zusammen.
Als AMICA 2003 zehn Jahre alt wird, kann der Verein nicht nur auf eine vielfältige Frauenrechtsarbeit in Südosteuropa zurückblicken, sondern nimmt auch erste Kontakte zu Organisationen in Palästina auf. Aus dem anfänglich kleinen Verein zur Nothilfe im Krieg entwickelt sich eine international tätige Nichtregierungsorganisation.
Projekt- und Begegnungshaus im Kosovo, 2001.
Projekt- und Begegnungshaus in Nordmazedonien, 2001.
Projekt- und Begegnungshaus in Srebrenica, Bosnien und Herzegowina, 2013.
2004 – 2010: Neue Regionen, das Ziel bleibt
Die Aufnahme der Arbeit in Palästina markiert einen neuen Zeitabschnitt. Es ist das erste Projekt von AMICA, das außerhalb Europas stattfindet. Im Flüchtlingscamp Dheisheh entsteht ein zweistöckiges Frauenzentrum. Hier erhalten Frauen aus dem Geflüchteten-Camp psychosoziale Beratung. Es werden zudem Seminare zu psychischer Gesundheit, häuslicher Gewalt und Kindererziehung angeboten.
Foto: Die Projektleiterin von AMICA und der Partnerorganisation treffen sich in Palästina, 2008.
Dass die Arbeit AMICAs relevant bleibt, zeigen auf grausame Weise die schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen durch Russland in Tschetschenien. Auch in dieser Region setzt sich AMICA ab 2005 für Frauenrechte ein.
Im Kosovo und in Bosnien werden die Projekte fortgeführt und weiterhin Frauen zusammengebracht, um Brücken zu bauen, sich auszutauschen und sich gegenseitig zu stärken.
Die mittlerweile langjährige Arbeit AMICAs in immer neuen Krisenregionen zeigt eine Sache ganz deutlich: Krieg verstärkt patriarchale Strukturen, die aber vorher schon existierten. In Krisen entsteht ein Klima, das Gewalt fördert und Opfer schutzlos zurücklässt.
Foto: Kurs zu mentaler Gesundheit, Tschetschenien 2010.
2010 erhält der Verein den UNIFEM-Preis für seine Bemühungen, die UN-Resolution 1325 als friedensfördernde Kraft in Konfliktgebieten zu nutzen.
Pressekonferenz am 25.10.2012 zum Start der 16 Days gegen Gewalt gegen Frauen in Palästina.
Sozialarbeiterin der Partnerorganisation in einem Dorf in Tschetschenien 2009.
Gabriele Michel und Kathrin Hillig bekommen bei der Preisverleihung für AMICA den UNIFEM-Preis, 2020.
2011 – 2017: Auswirkungen des Arabischen Frühlings
Die Auswirkungen des Arabischen Frühlings, der 2011 beginnt, sind in der internationalen Frauenrechtsarbeit intensiv zu spüren. In Libyen führt die Revolution zum Bürgerkrieg. Bald wird bekannt, dass es gezielt Vergewaltigungen in größerem Ausmaß gegeben hat. 2012 startet AMICA gemeinsam mit kleinen, sich gerade neu gründenden Frauenrechtsorganisationen die ersten Projekte in Libyen. Unterstützt werden kriegstraumatisierte und misshandelte Frauen. In Tripolis und in Bengasi entstehen psychosoziale Beratungszentren für Frauen. Es sind die ersten und einzigen Beratungszentren in Libyen dieser Art. In den nächsten Jahren erweitern sich die Aktivitäten auf die Stärkung von Frauenrechten in Libyen und den Aufbau einer Zivilgesellschaft. 2016 wird das Projekt mit dem Eine-Welt-Preis Baden-Württemberg der Stiftung Entwicklungszusammenarbeit (SEZ) ausgezeichnet.
Foto: Frauen demonstrieren in Bengasi, 2013. Auf den Plakaten: “Deine Stimme für sie ist Unterstützung für dich selber” (rechts), “Ja zur Unterstützung der Frau” (links).
2011 findet zum ersten Mal ein dreijähriges länderübergreifendes Projekt statt, das die Partner*innenorganisationen aus Bosnien, dem Kosovo und Palästina vernetzt. Sie arbeiten an einer gemeinsamen Kampagne, tauschen ihre Erfahrungen aus und lernen voneinander. In Bosnien beginnt außerdem die Arbeit zum Zeuginnenschutz in Verfahren zu Kriegsverbrechen. Die Justiz und Behörden werden im Umgang mit traumatisierten Überlebenden geschult, um Retraumatisierungen durch die Gerichtsverfahren zu vermeiden.
Foto: Netzwerktreffen unserer Partnerorganisationen aus Palästina, Bosnien und Herzegowina und dem Kosovo 2013 in Prizren.
Nicht nur in Libyen hat der Arabische Frühling Spuren hinterlassen. Aus Syrien flüchten immer mehr Menschen in angrenzende Staaten, darunter auch Frauen, die sexualisierte Gewalt erfahren haben. Ab 2014 engagiert sich AMICA daher auch im krisengeschüttelten Libanon, um geflüchtete Frauen aus Syrien und von häuslicher Gewalt betroffene Frauen im Libanon zu unterstützen.
Foto: Geflüchteten Camps in der Bekaa-Ebene, Libanon. Quelle: Christina Brun.
2015 setzt sich AMICA mit einem Projekt in Jordanien zur besseren Dokumentation von Kriegsverbrechen und den Schutz von Zeuginnen ein.
Mit den zusätzlichen Projektregionen wächst auch der Verein und es entsteht der Wunsch, für mehr Aufklärung in Deutschland zu sorgen. 2013 lädt AMICA gemeinsam mit der Heinrich-Böll-Stiftung zu einer internationalen Konferenz in Berlin ein zum Thema „(K)ein Frühling für Frauen? Politische Umbrüche und sexualisierte Gewalt: Beispiel aus den arabischen Transformationsländern“. Vor Ort sind auch Vertreterinnen fast aller Partner*innenorganisationen. Zum ersten Mal werden auch in Deutschland Fortbildungen zum Thema „Frauen und Mädchen im Krieg und auf der Flucht“ angeboten.
Foto: Konferenz in Amman, Jordanien 2015.
Konferenz ‚(K)ein Frühling für Frauen?‘ mit der Heinrich-Böll-Stiftung im Dezember 2013 in Berlin.
Treffen der Frauenkooperative, Kosovo 2013.
Teilnehmerin am Englischkurs im Beratungszentrum, Libyen.
2018 – 2024: Krieg in der Ukraine und AMICA heute
2014 annektiert Russland die Krim. Der darauffolgende Krieg in der Ostukraine führt dazu, dass AMICA 2018 ein erstes Projekt in der Region startet. AMICAs Partnerorganisation fährt mit mobilen Teams aus Ärzt*innen, Psycholog*innen und Sozialarbeiter*innen von Mariupol aus in die sog. Pufferzone (ein durch Checkpoints abgegrenztes Gebiet zwischen den Konfliktparteien) und unterstützt dort Frauen. Diese berichten dort von systematisch eingesetzten sexualisierten Übergriffen seitens der Separatisten und an Checkpoints. Auch häusliche Gewalt nimmt deutlich zu.
Jubiläumstagung 25 Jahre AMICA. Ehrung unserer Partnerinnen aus Bosnien und Herzegowina, Libyen, Libanon/Syrien und der Ukraine.
2018 feiert AMICA sein 25-jähriges Bestehen mit einer großen Fachtagung, an der auch alle Partnerorganisationen der aktuellen Projekte aus Bosnien, Libyen, Libanon und der Ukraine teilnehmen.
Anfang März 2020 erhält AMICA den Göttinger Friedenspreis.
„Wenn ich von Zivilcourage spreche, ist dies eine Verbeugung vor unseren Partnerinnen. Warum? AMICA, so heißt es in unserem Leitbild, setzt sich ein für Frauen und Mädchen in Kriegs- und Krisengebieten. Kriegs- und Krisengebiete, das sagt sich leicht. Für unsere Partnerinnen aber bedeutet diese Formulierung eine Lebensrealität, die wir uns hier, in unserem weitgehend sicheren Alltag, nur schwer vorstellen können. Es bedeutet, dass sie jeden Tag mit den Auswirkungen von Gewalt, sozialer Not und psychischen Traumata in Kontakt sind und bei ihren Einsätzen mitunter selbst in Gefahr geraten“, so Gabriele Michel in ihrer Rede beim Göttinger Friedenspreis. | Foto: Stiftung Dr. Roland Röhl (Peter Heller). |
Im März 2020 wird die gesamte Welt von der Corona-Pandemie getroffen. Hier zeigt sich wieder einmal: Jede Form von Krise stärkt patriarchale Strukturen. Bereits marginalisierte Frauen sind von den Folgen der Pandemie besonders stark betroffen. Die Pandemie wirkt als Katalysator bestehender Ungleichheiten. Unsere Partnerinnen berichten, dass häusliche Gewalt während der Pandemie deutlich ansteigt. Und für die Menschen in den informellen Geflüchteten-Camps im Libanon ist die Pandemie besonders gefährlich: Hygienestandards und Abstand können nicht eingehalten werden, es fehlt an Medikamenten und Impfungen. Gleichzeitig zeigt diese Situation: Unsere Partnerinnen sind krisenerprobt. Sie reagieren sofort, richten z.B. Hilfstelefone für Betroffene ein und setzen ihre Arbeit unermüdlich fort.
2022 verschärft sich die Lage in der Ukraine dramatisch, als Russland einen großflächigen Angriffskrieg auf die Ukraine beginnt, der auch Mariupol betrifft. AMICA und ihre Partnerorganisation müssen schnell reagieren. Die schwierige Situation zeigt: das Unterstützungsnetz, das AMICA seit 1993 aufgebaut hat, und die Zusammenarbeit mit den Partnerinnen funktionieren. Insbesondere mit der großen Unterstützung vieler Spender*innen in Deutschland können nicht nur sofortige Nothilfe geleistet und Menschen aus dem Kriegsgebiet evakuiert werden. Es gelingt inmitten des Kriegs auch, die Angebote für gewaltbetroffene und traumatisierte Frauen in andere, noch verhältnismäßig sichere Regionen zu verlegen. Trotz der akuten Kriegssituation wird die Arbeit unermüdlich weitergeführt.
Frauen lernen im Zentrum in Misrata das Weben von Teppichen, Libyen 2022.
Frauen im Little Women’s Corner in Here, Bosnien und Herzegowina, 2023.
Workshop des Women’s Empowerment Program im Gharsah Bildungszentrum für marginalisierte Frauen in der Bekaa-Ebene im Libanon, 2023.
2023: AMICA wird 30! Eine runde Zahl, die zum Feiern, aber auch zum Nachdenken anregt. Über das Jahr verteilt gibt es ein vielfältiges Jubiläumsprogramm: eine Lesung mit Mohamed Amjahid, eine Filmvorführung von ‚Quo vadis, Aida?‚ mit Einordnung unserer Bosnienreferentin Marlene Weck, Konzerte von La Nefera und Les Reines Prochaines und unsere Jubiläumstagung zum Thema „Auf:bruch in eine feministische Zukunft“ im November, sowie dem Frauenfriedenstag in Hamburg.