„Die Wahrheit ist wichtiger“
Saja Ćorić
Saja Ćorić
Saja Ćorić kämpfte gegen große Widerstände für ein Anliegen, das trotz UN-Resolutionen und offiziellen Erklärungen weltweit ein Tabu bleibt: Die Anerkennung sexualisierter Gewalt als Kriegsverbrechen. Für AMICA war Saja Ćorić eine wichtige Mitstreiterin und großes Vorbild. Porträt einer Fürsprecherin für Frauenrechte und Gerechtigkeit in Bosnien und Herzegowina.
Sie war eine Frau der leisen Töne. Leise, weil sie nicht viel Aufsehen um ihre Person machte, nicht die große Bühne suchte. Eine Frau, die dabei aber unermüdlich und hartnäckig gegen das Schweigen und Vergessen kämpfte. Sie gab den Überlebenden von Vergewaltigung im Bosnienkrieg eine Stimme und widmete ihr Leben der Wahrheit.
Saja war selbst eine Überlebende, eine von 20.000 – 50.000 Frauen, die im Bosnienkrieg (1992-1995) sexualisierte Gewalt und Folter erfahren haben. Geboren 1957 in Mostar wuchs sie dort gemeinsam mit zwei Brüdern auf. Bis zu Beginn des Krieges 1992 arbeitete Saja als Volkswirtin in einer Fabrik in Mostar. Während des Krieges wurde sie wie viele Zivilist*innen unter unmenschlichen Bedingungen im Vojno-Gefangenenlager bei Mostar interniert. 1996 kehrte sie zurück, traumatisiert von ihrer Gefangenschaft und der erlebten sexualisierten Gewalt, die in Bosnien von den bewaffneten Gruppen als strategisches Mittel der Kriegsführung eingesetzt wurde.
Wie unzählige andere Frauen erhielt sie keine staatliche Unterstützung. Das Thema sexualisierte Kriegsgewalt wurde gesellschaftlich totgeschwiegen, eine staatliche Aufarbeitung und Unterstützung der Betroffenen fand nicht statt. Vielmehr wurden und werden die betroffenen Frauen stigmatisiert, ausgegrenzt, bedroht. Zeuginnen, die den großen Schritt wagen und vor Gericht ziehen, werden nur unzureichend geschützt und beraten. So ist es nur allzu verständlich, dass sich viele der Frauen in diesem anhaltenden Klima des Schweigens bis heute – 25 Jahre später – nicht trauen, sich zu äußern. Haben Sie den Mut und gehen vor Gericht, erwarten sie sehr lange Wartezeiten, unsensible Behandlung durch Justizbehörden, geschlechtsspezifische Diskriminierung, fehlende psychosoziale Prozessbegleitung und ausbleibende finanzielle Unterstützung. Hinzu kommt, dass die Täter häufig frühzeitig aus der Haft entlassen werden. Auf sich allein gestellt und wohlwissend, dass ihre Identität nicht geschützt würde, entscheiden sich viele Frauen schließlich gegen eine Zeugenaussage. Der gesellschaftliche Wille, Täter zur Verantwortung zu ziehen, ist gering. Derzeit profitieren etwa 5.000 verdächtigte Kriegsverbrecher von diesem gesellschaftlichen Klima des Schweigens und kommen straflos davon.
„Die Wahrheit ist wichtiger“
Umso höher ist die Leistung jener Frauen zu bewerten, die trotz dieser Widerstände das Schweigen brechen und ihre Geschichte erzählen. Frauen wie Saja Ćorić, die zu Sprecherinnen der vielen anderen Frauen mit ähnlichem Schicksal wurden und vor Gericht zogen. Es war diese große Lebensaufgabe, die Saja Ćorić immer wieder angetrieben hat, obwohl sie massiven Drohungen und Angriffen ausgesetzt war. 2015 überlebte sie einen Autobomben-Anschlag. Man drohte ihr wiederholt und setzte sie unter Druck, bei Verhandlungen anders auszusagen. „Die Wahrheit ist wichtiger“, war ihre mutige Antwort auf die Frage, warum sie sich dem aussetzte und weiterhin Widerstand leistete.
Saja war eine der ca. 850 Frauen, die vor einer Kommission geprüft und offiziell als Opfer von Kriegsgewalt anerkannt wurde. Dieser „Status“ berechtigte sie, eine Entschädigung von monatlich 586 KM (ca. 280 EUR) zu erhalten. Nur wenige Frauen haben die Entschädigung bisher beantragt, obwohl sie berechtigt wären und die monatliche Unterstützung existentiell wichtig für sie wäre. Zu groß ist die Angst der Stigmatisierung, als Vergewaltigungsopfer zu gelten.
Kraft durch Solidarität
Ihre Hilfsorganisation Sumejja gründete Saja bereits 20 Tage nachdem sie die „Horror-Camps“ 1996 verlassen hatte. In den Augen vieler Frauen sah sie das Unaussprechliche, das ihr selbst widerfahren war. Sich verbünden, stärken, zusammenstehen und Erfahrungen austauschen, dieses Anliegen stand zu Beginn ihres Engagements. Die Frauen hatten alle ähnliche Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung: Schlafstörungen, Depressionen, Panikattacken, Rückzug aus dem sozialen Leben, ernsthafte gesundheitliche Probleme. Essenziell war daher die psychosoziale Unterstützung. Die wichtigste Person, die immer zu ihrer Verfügung stand, war ihre Neuropsychiaterin, erzählte Saja uns. Diese wurde von FLD engagiert, der Partnerorganisation von AMICA, die Unterstützungsangebote für gewaltbetroffene Frauen in Bosnien bereitstellt. Dringend benötigte Hilfe, die von staatlicher Seite nicht erbracht wird.
„ | Wenn ich zu Beginn gewusst hätte, dass ich die gesamte Arbeit für weibliche Kriegsopfer ohne die Hilfe und Unterstützung des Staates erledigen würde, hätte ich wahrscheinlich schon längst alles aufgegeben. Wenn es keine NGO wie FLD gäbe, wäre mein Kampf nicht erfolgreich gewesen,“ so Saja. |
Saja hat insgesamt 6 Urteile in Bosnien-Herzegowina und 11 Urteile am Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (engl. International Criminal Tribunal for the former Yugoslavia, kurz ICTY) in Den Haag erkämpft. Die Kosten für ihre Zeugenaussage in Den Haag im Jahr 2003 musste sie selbst aufbringen.
An der Seite der jesidischen Frauen
Für AMICA war Saja Ćorić eine wichtige Partnerin. 2018 startete das bis heute laufende AMICA-Projekt „Straflosigkeit in Bosnien-Herzegowina beenden – Schutz und Perspektiven für überlebende sexualisierter Kriegsgewalt.“ Ziel ist es, Lücken im Gerichtssystem aufzudecken und Zeuginnen bei Zivilrechtverfahren zu begleiten, Schutzmechanismen und bedarfsgerechte Nachsorgestrukturen für Zeuginnen bereit zu stellen. Nicht nur war Saja für AMICA eine der zentralen Schlüsselpersonen, die über ihre Opfervereinigung den Zugang zu den betroffenen Frauen herstellte. Sie war auch eine wichtige Expertin für AMICA. Beeindruckt von ihrer Persönlichkeit und ihrem unermüdlichen Einsatz luden wir sie als Beraterin 2018 im Rahmen eines weiteren AMICA-Projekts nach Deutschland ein, in dem jesidische Frauen unterstützt wurden.
Saja erzählte den jesidischen Frauen ihre Geschichte und sprach ihnen Mut zu. Ihr Einsatz war ein außergewöhnliches Beispiel transnationaler Solidarität zwischen Frauen. Sie gab den Jesidinnen Kraft, bestärkte sie darin, ihr Schweigen zu brechen und Gerechtigkeit für ihr erfahrenes Unrecht einzuklagen. In den Augen der jesidischen Frauen sah sie das Unbegreifliche, das gleiche Trauma, dieselben Symptome. „Sie essen sich von innen auf“, so Saja nach dem Workshop. Saja selbst hatte die enorme Last ihrer eigenen Geschichte zu tragen. Und dennoch brachte sie die Kraft auf, bereits geschwächt von ihrer Krankheit, nach Freiburg zu reisen und sich an die Seite der jesidischen Frauen zu stellen. „Wir wissen, dass die Geschichte noch nicht vorbei ist“, sagt sie. „Aber ich glaube, dass die Wahrheit immer gewinnt“.
Saja Ćorić war unermüdlich in ihrem Einsatz für Wahrheit und Gerechtigkeit. Sie war ein Vorbild für Frauen weltweit, für uns bei AMICA, für die Jesidinnen in unserem Projekt, für die Überlebenden in Bosnien-Herzegowina.
„ | I want to leave something for future generations – peace and tranquility. I want criminals to be in their proper place because those who killed and raped yesterday will do it again today as well as tomorrow.“ |
Gegen das Vergessen und für eine Zukunft kämpfen, in der Frauen und Mädchen keine Gewalt mehr erfahren, weil sie Frauen sind. Für ein geschlechtergerechtes und friedliches Morgen kämpfen. Keine lebte diese Ideen der Solidarität und Gerechtigkeit überzeugender als Saja in ihrem tapferen, mutigen und unerlässlichen Einsatz. Sie trug einen entscheidenden Anteil dazu bei, dass die Verbrechen sexualisierter Kriegsgewalt in Bosnien aufgedeckt, Täter zur Verantwortung gezogen wurden und Vergewaltigung als Kriegswaffe in der Öffentlichkeit thematisiert wurde. Das AMICA-Team ist sehr traurig, diese Vorkämpferin und Mitstreiterin nach langer Krankheit zu verlieren. Wir haben große Bewunderung vor der Lebensleistung von Saja Ćorić. Wir gedenken ihr und trauern um sie.