Ein Brief von

Barbara Schirmacher,
AMICA-Mitglied

Barbara Schirmacher gehört zu den vielen Menschen, die AMICA seit der Gründungszeit unterstützen. Wie viele andere hat die Hamburgerin 1993 den Spendenaufruf aus Freiburg gehört und angefangen, Hygienenartikel und Pflegetaschen zu sammeln. Im Januar 2022 schreibt sie in einem Brief, was AMICA für sie bedeutet.

Was mich stark macht

20. Januar 2021
 

Amica heißt Freundin.

Das lernten wir in unserem Lateinunterricht Anno 1953 eigentlich nur der grammatischen Vollständigkeit halber. Amicus der Freund, amica die Freundin, A- und O- Deklination. Kein einziger Text war an Mädchen oder Frauen interessiert. Puella cum amica in horto ambulat, das schon, ein Übungssatz, schriftlich ins Deutsche zu übersetzen. Ein Mädchen geht mit ihrer Freundin im Garten spazieren. Im übrigen waren die weiblichen Formen in den männlichen inbegriffen. Man – inklusive Frau- kennt das ja. Das übliche patriarchale Denken. Wir waren daran gewöhnt. Mir fehlte nichts. Ich hatte eine beste Freundin, drumherum noch weitere, und Latein war ein Kapitel für sich.

Von AMICA hörte ich später sehr eindringlich wieder.

Auf einer Insel Jugoslawiens fand ein wichtiger Teil meiner Ausbildung zur Psychotherapeutin statt. Neben uns Deutschen waren auch serbische, kroatische und albanische Therapeuten dort. Nur wurden sie im allgemeinen nicht so genannt. Tito hatte die Differenzen nieder gebügelt für seine Idee vom Einheitsstaat, die Einheitsbezeichnung Jugoslawen –Südslawen- verordnet und damit jedem dieser Völker seine eigene Geschichte geraubt. Wir hörten, wie erschütternd und befreiend es für diese Kollegen war, endlich einen sicheren Ort gefunden zu haben, wo sie die seit 1945, dem Ende des 2. Weltkrieges, vermauerten Türen zum Kriegsschicksal ihrer Familien aufstoßen konnten. Endlich dem Leid, der Angst, der Verlassenheit, der quälenden Ungewissheit einen Namen geben. Endlich das Verlorene betrauern dürfen, endlich nicht mehr verleugnen müssen. Sie atmeten auf.

Zwei Wochen später brach der Krieg auf dem Balkan aus. In den Nachrichten war die Rede von Massenvergewaltigungen als Mittel der Kriegsführung. Ich sah meine Kolleginnen vor mir und erstarrte in Entsetzen.

Und dann hörten wir von AMICA. Von Frauen, die sich hinzuschauen trauten. Die begriffen, was nötig war. Die zu Mithilfe aufriefen. Wie erlöst ergriffen wir die Möglichkeit, mit zu tun. Wir kauften Gesichtscreme, Haarbürsten, Monatsbinden, Perlonstrümpfe, Lippenstifte. Lippenstifte? Ja, natürlich!

AMICA 1993. Eine Initiative? Ein Zusammenschluss auf Zeit? Ein Verein?

Auf jeden Fall Frauen, die nicht in Schreckstarre auf die Nachrichten aus dem Krieg reagierten. Wir wagten uns ja noch kaum an das Thema Vergewaltigung in den eigenen Familien. Mehr als ein halbes Jahrhundert nach Kriegsende. Die drei Schwestern meines Vaters hatten sich das Leben genommen beim Einmarsch der Roten Armee in Finsterwalde in der Niederlausitz. Die Schwägerin, die 1945 aus dem Westen nach Pommern zurückging, um ihren kranken, von den Russen verhafteten Vater zu suchen. Sie kam zurück und weigerte sich ihr Leben lang, auch nur ein Wort über das Erlebte zu erzählen. Überempfindlich gegen Alkoholgeruch, konnten sie nicht ertragen, dass ihr Mann auf Familienfesten länger als sie aufblieb. Harmlos seine paar Bier, fanden alle. Hysterisch ihre Empfindlichkeit. Sie schwieg dazu.

Die Frauen, die sich AMICA nannten, nahmen Traumatisierung ernst. Sie wollten nachhaltig unterstützen. Die Teufelskreise aus sexualisierter Gewalt und Ohnmacht unterbrechen. Sie lernten bei betroffenen Frauen in Bosnien, dann auch in Tschetschenien, später in Syrien und Libyen, Freundin zu sein, auf Augenhöhe, mit Achtung und Respekt, in einer Haltung des Fragens und Zuhörens, niemals als Antwortwisserin. Überall arbeiten sie mit einheimischen Fachfrauen zusammen, ermöglichen medizinische Hilfe, organisieren sichere Häuser als Treffpunkte, sorgen für psychosoziale und juristische Beratung, bieten Ausbildung in Englisch und Computerwesen, ermöglichen Vernetzung und helfen beim Aufbau von Kooperativen für bescheidenen, aber eigenen Lebensunterhalt.

Ende Juni 2018 haben wir gemeinsam das 25jährige gefeiert. Mit prallen Tätigkeitsberichten; mit engagierten Vorträgen; mit Erinnerungen an den Anfang, die Berge von Pflegerucksäcken, die Lastwagentransporte; mit Lachen und dem angenehmen Gefühl, mit zu tun, auf ganz banale, unspektakuläre Art. Der Überweisungsauftrag an die Bank. Die Postkarte mit einer Rückmeldung zum Jahresbericht. Das Weitererzählen im Bekanntenkreis. Die Beteiligung an der Aktion „Was mich stark macht“, zwei, drei Sätze dazu.

Hier sind sie, meine Sätze.

Mit herzlichen Grüßen an alle AMICA-Frauen!

Barbara Schirmacher

Woher wir kommen

1993: wie alles begann


Foto: AMICA e.V.


AMICA entstand in Freiburg 1993 während des Kriegs im ehemaligen Jugoslawien. Ursprünglich gegründet als humanitäre Hilfsorganisation ist AMICA heute eine international tätige Nichtregierungsorganisation.

Weiterlesen

Srebrenica 1995

„Denn ihr seid nicht allein“


Foto: © www.srebrenica-frauen.org


Der Genozid von Srebrenica ist immer noch eine offene Wunde für die Überlebenden – und ein sehr dunkles Kapitel der europäischen und internationalen Politik. Es ist unsere Aufgabe, nicht wegzuschauen, nicht zu vergessen.

Weiterlesen

 

Hintergrund

Ein Beitrag für iz3w


Foto: AMICA e.V.


„Unbehelligte Täter, schweigender Staat – Sexualisierte Kriegs­gewalt ist in Bosnien bis heute ein Tabuthema“. Ein Beitrag von Hannah Riede (AMICA), Larissa Schober (iz3w) und Lejla Šadić (Fondacija lokalne demokratije) für die Zeitschrift iz3w .

Artikel lesen

Spenden