"Sie haben die Freiheit gekostet,
sie haben Empowerment erlebt."

» 10 Jahre Arabischer Frühling

Interview mit Iman Bugaighis

Als die Revolution in der ostlibyschen Stadt Bengasi anfing, war Iman Bugaighis eine der ersten Frauen auf der Straße. «Wir wussten, dass wir unser Leben riskierten. Doch ich fühlte mich verpflichtet, für meine Studenten eine bessere Zukunft einzufordern», sagte die Professorin für Kieferorthopädie in einem Interview für die Neue Zürcher Zeitung im November 2018. So ist Iman Bugaighis Menschenrechtsaktivistin geworden. Sie und ihre Schwester Salwa, Rechtsanwältin, wurden bald als «Schwestern der Revolution» bekannt.

Für viele Frauen in Libyen waren die ersten Jahre der Revolution wie ein Erwachen, eine Befreiung. Doch bald verschlechtert sich die Lage dramatisch. 2014 wurde Salwa ermordet, wie viele andere Aktivistinnen. Wie sieht es heute 10 Jahre nach der Revolution aus? Unser Gespräch mit Iman Bugaighis.

AMICA: Wie haben Sie den Beginn der Revolution in Libyen empfunden und welche Rolle spielten Frauen dabei?

Iman Bugaighis: Es war ein großartiges Gefühl für mich und für viele andere, insbesondere auch für meine Schwester Salwa Bugaighis. Es war das erste Mal, dass wir protestiert haben, denn vorher hieß es, wenn man protestiert, stellt man sich automatisch auf Gaddafis Seite. (* s. Anm. d. Red.)

Die Rolle von Frauen zu Beginn der Revolution war sehr entscheidend. (** s. Anm. d. Red.). Sie riefen: ‚Wach auf, wach auf Bengasi, das ist der Tag, auf den ihr gewartet habt‘. Dass die Frauen dort alleine standen, hat die Männer provoziert und alle waren bereit, weil man wusste, was in Ägypten und Tunesien passiert ist, alle waren bereit, sich für den Wandel zu opfern.

 

AMICA: Wofür haben die Frauen in der Revolution in Libyen gekämpft?

Iman Bughaigis: Es war wie eine Explosion. Die Frauen kämpften für ein höheres Ziel, weshalb die Männer sie nicht stoppen konnten. Sie erkämpften sich ihre Freiheit: Freiheit von gesellschaftlichen Zwängen, von vorherrschenden Denkweisen, einfach von allem. Das hat sie sehr stolz gemacht und sie fanden eine ganz neue Energie in sich: Sie fingen an ihre Rechte einzufordern und wollten Teil des politischen Systems sein. Zum ersten Mal überhaupt redeten Frauen über Politik. Zuvor hatte es immer eine klare geschlechtliche Trennung gegeben: Männer redeten über Politik und Frauen über das tägliche Familienleben. Frauen hatten kein politisches Mitspracherecht, weshalb die meisten auch nicht das Bedürfnis hatten sich politisch zu informieren oder zu engagieren. Natürlich gab es einige wenige, die auch schon vor der Revolution politisch aktiv waren, aber ich spreche hier von den Leuten im Allgemeinen. Die Revolution hat das verändert. Die Frauen feierten ihr Empowerment durch die Revolution, ihre Liebe zu ihrem Land und die Möglichkeit neues Wissen aufzunehmen und sich weiterzubilden. Die Revolution hat für Frauen sehr viel verändert und bewegt.

 

AMICA: Wie beurteilen Sie die Revolution aus heutiger Sicht 10 Jahre später? Hat sich die Situation von Frauen verbessert oder verschlechtert?

Iman Bughaigis: Zu Beginn der Revolution habe ich mir bereits gedacht, dass es nicht einfach werden würde, aber ich habe nicht erwartet, dass es so groß werden und so lang dauern würde. Ich bin sehr traurig über die Leben, die vergeudet wurden. Deshalb mache ich niemandem, keiner Familie einen Vorwurf, die sagen, dass sie die Revolution bereuen. Ich habe in der Revolution meine Schwester, meinen Schwager, meinen Platz, meine Position und meine ganzen Erinnerungen verloren, alles was mir geblieben ist, war ein Koffer.

Die Situation für Frauen in Libyen ist heute schlimmer als vor der Revolution, leider. Aber es gibt auch viele gute Beispiele in Libyen. Ich bin stolz auf das libysche Volk. Libysche Frauen gehen arbeiten, oft abseits der Politik. Viele von ihnen sind sehr clever, sie bauen eine wirtschaftliche Basis auf, helfen Frauen, machen Workshops und versuchen sich in Libyen zu vernetzen. Das nenne ich Aufbau. Natürlich nicht in großen Zahlen, aber es gibt sie. Und das in einer sehr schwierigen Zeit.

Wenn es nun darum geht in Libyen ein neues System aufzubauen, werden die Frauen für ihre Rechte kämpfen, denn sie sind nicht mehr die gleichen Frauen wie früher. Sie haben die Freiheit gekostet, sie haben Empowerment erlebt. Jetzt wissen sie, was eine Zivilgesellschaft bedeutet und sie haben Internet. Es ist eine neue Generation. Aber wir müssen diesen Frauen Stabilität und Sicherheit geben. Die Sicherheitslage für aktive Frauen wurde durch die Instabilität, Krieg sowie persönliche Bedrohungen und Diffamierungen schwierig, aber viele von ihnen kämpfen weiter für ihre Rechte. Ich bin sicher, dass, wenn Libyen stabiler wird, sich mehr Frauen anschließen werden.

 

AMICA: Was wünschen Sie sich für die Zukunft Libyens?

Iman Bughaigis: Zuallererst: Frieden. Kein Tod mehr. Das steht an erster Stelle. In Libyen gibt es keine Familie, die nicht einen geliebten Menschen verloren hat. Frieden ist also sehr wichtig. Zweitens fordere ich Würde für mich und mein Volk. Würde bedeutet alles. Um Würde zu haben, brauchen wir Rechtsstaatlichkeit, Respekt, die Anerkennung und Akzeptanz von Differenzen und Unterschieden, eine stabile Regierungsführung und nicht zuletzt Sicherheit und Chancen für die neue Generation. Sie haben es verdient.

 

* Anm. d. Red.: Denn vorher waren nur von Gaddafi inszenierte Demonstrationen möglich. Weiterlesen ↑

** Anm. d. Red.: Am 15.02.2011 wurde der Anwalt und Menschenrechtsaktivist Fathi Terbil verhaftet. Er war der Vertreter der Angehörigen der Opfer des Massakers im Abu-Salim-Gefängnis von 1996 bei dem 1200 vor allem politische Gefangene ermordet wurden. Spontan versammelten sich daraufhin in Bengasi Mütter, Schwestern und Witwen der Männer, die bei dem Massaker getötet wurden. Sie forderten die Freilassung Fathi Terbil, die Aufklärung des Massakers und prangerten die Korruption des Regimes an. Weiterlesen ↑

 


Das Interview führten Nele Bost und Britta Wasserloos für AMICA im März 2021. Übersetzt und editiert von Sabeth Vater.

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